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'der orient ist die wahre mutter europas, und unsere schlummernde sehnsucht geht immer dorthin' - bruno taut

Sonntag, 2. März 2014


lauter hunderteuro-scheine auf dem boden in ankara,
als anspielung auf das abgehörte telefongespräch erdogans
waaas gibts zu erzählen? ich war mit julia in einem restaurant, wo 10 kellner innerhalb einer stunde
die klotür aufbrechen mussten, weil sie nicht mehr rauskam, bin mit einem karierten arm ins krankenhaus gefahren und durfte heute teil einer hustenden und niesenden masse werden, weil die polizei wieder auf die glorreiche idee kam, überall, wirklich überall gas zu versprühen.

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mit meiner gastfamilie versteh ich mich weiterhin sehr gut. wo wir wieder bei stereotypen wären.
sie sind nicht die arroganten, eingebildeten und abgehobenen high-society bonzen, sondern
wirklich extrem liebe menschen, was sich in kleinsten situationen zeigt.. wie zb, dass unser hinkender
kater zülküf sofort nach dem reinkommen mit "hos geldin, oglum" ( = herzlich willkommen, mein sohn) begrüßt wird, oder, dass meine gasteltern, nachdem sie meinen 15jährigen gastbruder
angemeckert haben, er säße zu viel am computer, in die pizzeria eingeladen haben, oder,
dass mein gastopa, der eigentlich gar nicht viel geld hat, mir 20 lira zeugnisgeld (obwohl ich ja nichtmal eins kriege) gibt, oder, dass der boden hier nicht wie geleckt aussieht, oder dass meine
gastmutter gerne nochmal die übriggebliebene suppe aufwärmt, damit die straßenhunde
was zum essen haben. so kleinigkeiten.

ich überlege immer wieder, ob es nicht einige kulturelle besonderheiten zu erzählen gibt,
aber es fällt mir, denke ich, einfach nicht mehr so auf im alltag.
außer vielleicht das mit dem teilen, weil es einfach so extrem ist.
beispielsituation ist, ein "freund" von mir in der schule kauft sich in der kantine ein domino-eis.
ein mädchen sagt, "oh, wie lecker", woraufhin er ihr sofort anbietet, abzubeißen.
und weil er dann ein schlechtes gewissen hatte, dass die anderen nichts abgekriegt haben,
hat sein eis einmal die runde gedreht bei sechs leuten, so dass er am ende gar nichts mehr hatte.
aber das ist einfach typisch türkisch, sowas passiert hier dauernd.
ich zitiere meine türkischlehrerin "für uns türken ist es das ungeheuerlichste auf der welt, nicht zu
teilen. wenn hier jemand mit baklava säße und mir keinen happen anbieten würde,
dann ist das für uns einfach ein ungehobelter ignorant."
und das ist bei jungs nochmal extremer, weil das hier alles so gentlemen sind. selbst mein 15jähriger
gastbruder, der eigentlich so extrem schüchtern ist und nie redet, kann es sich nicht nehmen lassen,
mir immer die autotür aufzuhalten, das essen auf den teller zu legen, mich zuerst durch die tür gehen
zu lassen und so weiter.

achso, wo wir beim essen sind... so trockene kuchen gibts hier eigentlich gar nicht, heißt, man isst
immer torte. aber anstatt jedem ein stück abzubeißen, nimmt sich einfach jeder eine gabel und ja..
so läuft das hier :D aber allgemein ist man da nicht so zimperlich. hier würde nie jemand auf die
idee kommen, einen extra löffel in den salat oder in die pommesschüssel oder oder oder zu legen,
nimmt sich halt jeder selbst mit gabel oder händen.

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ich will hier nicht allzu viel über politik schreiben, aber ich kann ja mal die stimmung hier
beschreiben... normalzustand in kizilay, also zentrum von ankara, sind wasserwerfer und
polizeipanzer an jeder ecke, aufmärsche von schwerbewaffneten polizisten. die staatsmacht
ist also wirklich überall präsent. mittlerweile sind fast jeden tag kleine demos oder politische
vorträge im park. egal, wen ich frage, alle finden den 'başbakan' (= ministerpräsident, sein name
wird eigentlich gar nicht in den mund genommen) irgendwie furchtbar, aber gleichzeitig sind
sich alle sehr sehr sicher, dass er die wahlen wieder gewinnen und sich eventuell zum
alleinherrscher auf unbegrenzte zeit machen lassen wird. besonders im moment werden
überall witze über ihn gemacht, er wird ausgelacht, aber das ganze hat so seinen bitteren
beigeschmack, wenn man täglich in der fußgängerzone durch das plakat an die menschen
erinnert wird, die vor einigen monaten bei protesten gegen besagten başbakan von polizisten
ermordet worden sind.

heute, anlässlich der abgehörten telefongespräche, von denen alle mitgekriegt haben dürften,
gab es wieder verhältnismäßig große protestaktionen ab spätem nachmittag in kizilay.
alles fing mit den hunderteuroscheinen an, die ich dann noch unwissend fotografiert habe,
bis plötzlich menschenmassen auf mich zugerannt kamen, und ich schreie und schüsse gehört
habe und mich dann in einem unterwäscheladen verschanzen konnte..
danach war es erstmal gespenstisch still, man hat sirenen gehört, polizeiansagen, aber sonst
gar nichts mehr, die straßen waren plötzlich wie leergefegt. nur polizisten halt.
ich bin dann irgendwann raus und hab mich durch die polizistenmassen zu dem treffpunkt
mit meiner gastfamilie zu kämpfen versucht, bis plötzlich alle menschen um mich rum
gehustet haben. ich hab mich erst noch gewundert, bis sich auch meine lungen verengt haben
und ich miteingestimmt bin. es war echt kein angenehmes gefühl, man sah nur laufende
menschen mit tüchern vorm mund und gerade in dem moment musste ich meiner gastmutter
dann noch in den hörer keuchen, wo ich gerade bin.
sehr sehr gruselig das ganze.

und dann bin ich noch, hustend auf mein handy guckend, gegen das schutzschild eines polizisten
gelaufen, und hab mich noch gewundert, was denn da so hart ist. man gönnt sich ja sonst nichts..

wahrscheinlich kommen in ausländischen nachrichten hin und wieder berichte über die proteste
hier, das einzige, was hier zurzeit zu sehen ist, sind reden von erdogan mit jubelnd-euphorischem
publikum und seiner dazu begeistert nickenden verhüllten ehefrau. und ein paar tierfilme gibts noch..

was solls, die türken überlegen sich immer wieder neue, friedliche protestformen, was wirklich
bewundernswert ist.



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sonst kann ich noch sagen, dass es ein bisschen erschreckend ist, dass heute tatsächlich der erste
märz ist. ich meine, das ist der dritte monat. und im sechsten monat fliegen wir wirklich schon?
es macht mir ein bisschen angst. ich glaube, die wirkung eines austauschjahres kann niemand so
wirklich in worte fassen, aber irgendwie scheinen alle zu wissen, dass sie unglaublich groß ist,
was manchmal wirklich unheimlich ist. da wären zum beispiel die ehemaligen austauschschüler,
die berichten, dass sie seit jahren im heimatland zurück sind, sich aber nie mehr an einem ort
richtig zuhause gefühlt haben und und und. das ganze ist mir immer noch wirklich unheimlich,
aber bereuen tun es die wenigsten und ich sowieso nicht, gerade, weil ich hier in gewisser weise
gelernt habe, zu leben, und weil ich mir einfach diesen sprung bzw. blick über den horizont und
das gehen über die eigenen grenzen hinaus, nicht mehr wegdenken kann. ich kann mir nicht
vorstellen, wie es gewesen wäre, wäre ich einfach weiter auf mein tostedter dorfgymnasium gegangen. mit den selben menschen, selber umgebung, selber kultur, selber sprache.

ohne dieses gefühl, die welt einfach mal getauscht zu haben.
das wohl schwierigste am ganzen austauschjahr war das gefühl, ein alien zu sein, der auf
dem falschen planeten gelandet ist. was für deutsche in der türkei heißt, sich nach der
deutschen unfreundlichkeit, direktheit, ignoranz und anfänglicher kälte wortwörtlich zu sehnen
und sich wie ein autist zu fühlen zwischen menschen, die keinen tag aushalten, ohne irgendwie
zu orientalischer musik zu tanzen, die pro tag mindestens zehn verschiedenen menschen auf
die wange küssen und die jeden bei jeder begegnung fragen, wie das leben so läuft.

aber jetzt ist es weg. es ist wirklich weg, endlich. ich gehöre jetzt in gewisser weise zur
türkischen gesellschaft und deswegen plane ich auch schon meine rückkehr. da gäbe es
ein programm im sommer, mit dem ich zwei wochen auf eine istanbuler universität könnte.
ich hoffe, dafür bin ich nicht "überqualifiziert", und wenn doch, dann werde ich auch spätestens
im juli mit dem rucksack für ein kleines weilchen am schwarzen meer entlang spazieren. :D
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was ich wirklich vermissen werde, sind die vielen gerüche in den vielen kleinen seitenstraßen
mit ihren zahlreichen ständen, frisch gebrannten kastanien, noch warmen sesamriegeln oder
gerade frittierte süßigkeiten. ich werde es vermissen, einfach auf einer parkbank zu sitzen,
die rufe der Çay-verkäufer hörend, ich werde es vermissen, allen arbeitenden menschen
'kolay gelsin' (= möge es leichtfallen) zuzurufen, vom müllmann zum manager,
ich werde die straßen in ankara vermissen, die ordentlichen, sauberen viertel
im westen, die kurvigen, sandigen bergstraßen im osten.
die heißen, trockenen sommer, den winter mit schneebedeckten berggipfeln in der ferne.
die mediterranen uralten lehmhäuser neben den modernen apartments.
ich werde die kaffeesatzleser vermissen, die menschen, die auf vierspurigen hauptstraßen
auf dem schmalen mittelstreifen balancieren mit simits auf dem kopf und einem korb
wasserflaschen in der hand. ich werde die straßenmusiker in ankara vermissen
oder auch die tatsache, dass die traube, die sich um sie bildet, nach spätestens fünf
minuten anfängt, zu der musik zu tanzen. dass hier niemand auf die idee kommt,
zimmertüren zuzumachen. die selbstverständlichkeit der gastfreundschaft und wärme.
ich werde einfach die sachen vermissen, die in deutschland fehlen...
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(ja, ich fühle mich schon längst nicht mehr als touristin, werde aber wegen meines
aussehens überall noch so behandelt. deswegen kriegt man öfters in cafés sowas geschenkt :) )












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